Kapitel 1
Wie Abfall lagen die beiden Männer und die Frau in der Gasse neben den stinkenden Müllcontainern und warteten darauf, vom Tod abgeholt zu werden. Weder die Hölle noch der Himmel würden sie aufnehmen. Dieser Schwachsinn existierte nicht. All das Böse befand sich hier auf der Erde, wandelnd zwischen dem wenigen Guten, weder tot noch lebendig.
Und das wenige Gute galt es zu schützen. Auf welche Art auch immer.
Liam kniete sich hin und schaute in das sterbende Gesicht der jungen Frau, vermutlich nicht einmal zwanzig Jahre alt. An ihren langen dunklen Haaren klebte Blut und ihre halb geschlossenen Augen sahen ihn flehend an. Für einen Moment sah er das blasse Gesicht eines Mädchens, das ihm vor sehr langer Zeit vertraut gewesen war. Das rothaarige Mädchen, das er damals hatte töten sollen.
Er schüttelte die Erinnerung ab und legte seine Hand an die Wange der jungen Frau. Liam sah ihr fest in die Augen, versank tief in ihrer Seele. Die Zeit um sie herum blieb für einen Moment stehen, ein leichter Hauch des Windes streifte seinen kahlen Nacken. Er sah ihr bisheriges Leben vor seinem geistigen Auge rasend schnell vorbeiziehen. Doch was noch alles auf sie hätte zukommen können, lag fernab seiner Fähigkeiten. Er brachte den Tod, in die Zukunft sehen vermochte nur das Leben.
»Noch einen letzten Kuss, Sensenmann, oder warum brauchst du so lange?«, fragte ihn eine sarkastische Stimme. Ohne sich umzudrehen wusste er, dass dieser abfällige Ton Lucien gehörte.
Liam war ein Reaper. Er war derjenige, der die verdorbenen Seelen am Ende einfing, um die russische Stadt Čzernoc von dem Abschaum zu befreien. Im Angesicht des Todes sahen ihn die Menschen in Gestalt des Gevatters vor sich, ein weiß hervorscheinender Schädel mit dunklen Höhlen und frostblauen Augen, lange, knochige Finger. Ohne Chance auf Absolution oder Wiedergeburt. Wenn er in seiner finsteren Erscheinung auf sie hinunterschaute, war dies ihre letzte Reise.
Der Reaper erhob sich, zeigte keinerlei Regung, als der Frau Blut aus der Bauchwunde quoll und heiße Tränen ihre schmutzigen Wangen hinab rannen. Die Chance war vertan.
Mit einer Drehung seines rechten Armes schlängelten sich aus dem Ärmel seines Mantels elfenbeinfarbene Wirbel, die sich wie eine lange Wirbelsäule zu einem Stab formten, dessen Ende in eine Art Sichel auslief, geformt wie der augenlose Schädel eines toten Raben mit langem, spitzen Schnabel. Er schwang den Stab mehrmals in schnellen Bewegungen hin und her, bis er die Sichel auf die Frau hinabgleiten ließ. Die obere Kante des Schnabels streifte nur knapp ihren Oberkörper und nahm ihre Seele in sich auf. Dasselbe Schicksal erlitten die beiden Männer, als die knochige Sichel ihren Lebensfaden durchschnitt. Stumme, qualvolle Schreie durchzuckten Liams Körper, während die Toten in seinem Stab gefangen wurden.
Nicht nur sie hatten Schmerzen.
Ihre toten Körper lösten sich in Nebelschwaden auf, Funken verbrannten Stoffes wirbelten auf dem Asphalt umher, bis nur noch Asche übrigblieb.
»Warum hast du gezögert? Was war an der Göre so spannend?«, fragte Lucien mit genervter Stimme.
»Es interessiert mich, welches Leben die Gefallenen geführt haben«, antwortete Liam, immer noch auf die Stelle blickend, wo die junge Frau vor kurzem gelegen hatte.
Lucien seufzte. »Und?«
»Sie war kein Engel, aber ihre Seele hätte gerettet werden können.«
Der große, schlanke Mann trat näher an Liam heran, sein Blick war finster. »Ihre Seele war verdorben. Sie und diese zwei Pfeifen waren Kriminelle. Die Männer waren Schläger. Sie waren Abschaum. Ein Gefallener ist und bleibt ein Gefallener, man kann sie nicht retten, Liam. Sieh mich an. Also reiß dich endlich zusammen.« Mit diesen Worten drehte Lucien sich um und lief zum Eingang der Gasse zurück. Dort warteten weitere drei Seelenjäger, die ihren Auftrag bereits erfüllt hatten.
Sie waren Seelenjäger. Sie wurden erschaffen, um diese verdorbene Stadt zu einem besseren Ort zu machen. Um die gesamte Welt zu verändern.
***
Die Sonne war schon längst untergegangen, doch Liam kümmerte das nicht. Als Reaper genoss er einige Vorzüge, die seine Mitstreiter nicht hatten. Einer davon erlaubte es ihm, problemlos zum Wächter des Gläsernen Schlosses zu gelangen, das nur im Lichtschleier zwischen der untergehenden Sonne und dem aufgehenden Mond offen stand. Ins Zwielicht konnte jeder Jäger treten, doch nur ihm war es möglich, ins Schloss zu gelangen, wann er wollte.
Liam stand hinter einer alten gotischen Kirche, vor ihm lag ein kleiner Friedhof. Die Ruinen zeugten von einem längst vergangenen Krieg, der seine blutigen Spuren tief in der Erde vergraben hatte. Blut, das in Liams Vorstellung nie trocknen würde. Die Gräber waren durchdrungen mit den zu Staub zerfallenen Knochen alter Krieger und Wächter, die die ehemaligen Zeiten beherrscht hatten.
Blätter raschelten im Herbstwind, sein schwarzer Mantel flatterte um seine Beine. Die fast kahlen Bäume, deren Äste sich seltsam zu bewegen schienen, formten in der Dunkelheit bizarre Kreaturen.
Der Tod passte gut an diesen Ort, doch wohl fühlte Liam sich hier nicht. Die Grabsteine und die unheimliche Stimmung, die in der Luft lag, jagten ihm keine Angst ein. Sein Problem waren die hier begrabenen Menschen. Sinnlose Tode, von Gefallenen verursacht, die sie zu jagen verpflichtet waren. Selbstverschuldete Tode, weil sie ihrer mächtigen Verantwortung nicht gewachsen waren. Wächter und Jäger, die noch hätten leben können. Sowie die Normalsterblichen.
Er lief an mehreren Gräbern vorbei, bis er an einem ganz bestimmten stehen blieb, vor dem ein grauer Wolfshund kauerte. Unter diesem Grabstein lag Mael begraben, Liams Zwillingsbruder und einst ein großer Jäger, nun von Würmern zerfressen und nichts weiter als Knochenstaub. Seit unzähligen Jahrhunderten hatte Liam gelernt, mit halbem Herzen zu leben, doch die andere Hälfte fehlte ihm schmerzlich. Nicht ein Tag verging, an dem er nicht an den Bastard dachte, der für Maels Tod verantwortlich war. Denn dieser Verräter, der sogar für den Fall der gesamten Wächterdynastie gesorgt hatte, wanderte noch immer umher.
Der Reaper erinnerte sich nur zu genau an die alte Zeit, während er sich herunterbeugte und den Hund, der oft auf dem Grab seines ehemaligen Besitzers lag, liebevoll hinter den Ohren kraulte. Er trauerte um ihn, vermutlich genau so sehr wie Liam selbst. Wenn nicht sogar noch mehr.
Der Vierbeiner, der auf den Namen Finn hörte, war damals zu Zeiten der Wächterdynastie vor fast 600 Jahren Maels treuer Begleiter gewesen. Doch Wolfshunden war kein langes Leben vergönnt. Da Mael sich aber nicht von ihm hatte trennen wollen, hatte er ihn wiederbeleben lassen.
Liam erhob sich wieder und lief einige Schritte zurück. Dann schwang er seinen Todesstab und zerteilte die Luft, die Zeit um ihn herum fror ein. Für den Bruchteil einer Sekunde erhaschte er den Blick des Hundes, der ihm den Kopf zuwandte. Es schien, als sähe der Rüde ihn durch den Schleier hindurch an.
Mit hochgezogener Kapuze trat der Reaper in die Zwischenwelt und lief den kurzen gläsernen Weg entlang. Bei jedem Schritt ertönte ein Klang, den das Glas von sich gab.
Das Zwielicht offenbarte stets die wahre Erscheinung des Eingetretenen und auch wenn Liam im Moment nur aus Knochen bestand, fühlte er sich dennoch menschlich.
Er lief die fast durchsichtigen, von Rissen durchzogenen Stufen hinauf und blieb vor zwei riesigen Glastoren stehen. Die Luft um ihn herum waberte, dann erzitterten die Türen und öffneten sich wie von Geisterhand. Der Tod höchstpersönlich betrat das heilige Schloss und wandelte sich zurück. Fleisch und Sehnen umhüllten sein Skelett, helle Haut spannte sich über seine Muskeln und sein Körper nahm wieder eine menschliche Form an.
Das gesamte Gebäude bestand aus milchig weißem, fast undurchsichtigem Glas. Die spärliche Inneneinrichtung ließ den Vorraum verlassen wirken, doch die Muster, Symbole und Ornamente an den Wänden waren von so atemberaubender Pracht und so wunderschön ausgearbeitet, dass man den Drang verspürte, sie zu berühren. Viele der Wände waren verspiegelt, doch Liam hütete sich davor, zu lange in sie hineinzublicken, wenn er an ihnen vorbeilief.
Um ihn herum war es schattig. Jeder seiner Schritte erzeugte einen leisen, glockenartigen Ton, als würde man mit einer feuchten Fingerkuppe über den Rand eines Weinglases reiben, und die Stellen, über die er lief, wurden erhellt. Die Spiegel lockten mit ihrem Glanz. Aber wenn man nicht aufpasste, verirrte man sich in ihrem ewigen Labyrinth. Die Wände verschoben sich in unregelmäßigen Abständen und erschwerten den Weg. Da Liam aber dieses Schloss gut kannte, wusste er, welche Abzweigungen er nehmen musste, um sich nicht von den Spiegeln blenden zu lassen. Der Jäger fragte sich nicht selten, ob das Labyrinth lebte, da er glaubte, die Wände atmen zu hören.
Bei der letzten Biegung betrat er einen großen, hohen Raum. Die Absätze seiner schwarzen Kampfstiefel hallten in dem Zimmer wider und seine Augen wanderten erstaunt von einer Seite zur anderen. Unzählige Male hatte er hier schon gestanden, doch die Ehrfurcht übermannte ihn jedes Mal. Gläserne, wie Kristall anmutende Bilderrahmen hingen an den reich verzierten Wänden, als wären sie herausgearbeitet worden. Alles wirkte edel und geschmackvoll. Jedoch schmückte nicht jeder Rahmen ein Porträt; manche waren leer geblieben.
Der Vollmond schien durch die langen Fenster hindurch und erhellte den Raum in einem atemberaubenden Farbspiel. Sein Licht wurde an jeder Kante, in jedem Winkel des Raumes gebrochen und reflektiert. Es prallte an den Ecken ab und erzeugte an manchen Stellen regenbogenfarbige, verschlungene und geheimnisvolle Muster, die das Zimmer in eine Kathedrale aus Licht verwandelten.
»Illusionen sind wie Balsam für die Seele. Ein wunderbarer Ort, in dem man ewig verweilen könnte, nicht wahr?« Die Stimme seines Onkels war alt, ruhig und freundlich. Doch all die unzähligen Jahre hatten sie gebrochen.
»Sie sind trügerisch«, warf Liam ein.
»Doch ist es falsch, wenn sie Gutes bewirken?«
»Sie sind nicht real.«
»Sagte der Tod in einer Welt voller Monster.«
Liam lächelte und sah den Wächter des Gläsernen Schlosses an. Die Falten in dessen blassem Gesicht ließen ihn sehr erschöpft wirken, büßten jedoch nicht die Herzlichkeit ein, die er ausstrahlte. Er trug, wie immer, ein Leinenhemd und eine Leinenhose, jedoch keine Schuhe. Die helle Kleidung wirkte fast grau im Vergleich zu seinem blütenweißen, langen Haar, das er zu einem wirren Knoten zusammengebunden hatte.
»Ich habe neue Seelen für dich«, verkündete Liam.
Sein Onkel nickte in Richtung der unsichtbaren Tür, vor der er stand, und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Liam spazierte in den geheimen Gang, der – wie schon im Labyrinth – bei jedem Schritt erleuchtet wurde. Doch hier waren die Wände weder verspiegelt, noch verschoben sie sich in irgendwelche Richtungen. Lediglich leise Klänge hallten von ihnen wider und es war, als würde sie etwas Filigranes durch die Wände hindurch verfolgen. Wie ein dünner, fast nicht wahrnehmbarer silberner Faden, der sich durch das gläserne Mauerwerk zog.
»Wie schaffst du es, in diesem Schloss nicht wahnsinnig zu werden? Diese seltsamen Gänge, die verdammten Spiegel, die einen von überall her zu beobachten scheinen. Ich habe sogar das Gefühl, dass diese ... Melodien mich verfolgen würden. Eingesperrt in diesem verdammten Würfel aus Glas, als wäre er lebendig.«
»In diesem Würfel«, betonte der alte Wächter verärgert, »wird nicht geflucht.«
»Verzeih«, murmelte Liam, rollte aber dabei mit den Augen.
»Du verweilst schon zu lange in der Menschenwelt. Deine Manieren sind dir abhandengekommen.«
Der junge Mann lächelte unweigerlich in sich hinein. Im Vergleich zu den Menschen besaß er jede Menge Manieren. Was war da schon ein wenig Fluchen? »Und du könntest ruhig etwas unter die Leute kommen. Die Einsamkeit zerfrisst dich irgendwann.«
»Ich weiß deine Sorge um deinen alten Onkel sehr zu schätzen, mein lieber Liam. Aber ich habe so meine Methoden, um mich auf dem Laufenden zu halten.«
Den alten Herrn zu necken war Liam stets eine Freude und ihm war bewusst, dass dieses Privileg nur er allein genoss. »Nun teile dein Geheimnis mit mir«, fragte Liam neugierig.
Der Wächter blickte stumm auf den Boden, während sie sich der Halle näherten. »Das verrate ich dir, wenn es so weit ist.«
Als sie den Saal betraten, verschmolzen Liams Geist und die Heiligkeit dieses Ortes miteinander. Jedes einzelne Mal, wenn er in diese sakrale Halle trat und sein Blick unweigerlich zu der Statue wanderte, die vor ihm emporragte, wurde seine Seele von einem Gefühl übermannt, welches er bis heute nicht definieren konnte.
Er kniete sich ehrfurchtgebietend vor die Statue des Ersten Wächters nieder. Den Arm mit der Knochensense stützte er waagerecht auf einem Knie ab und neigte seinen Kopf respektvoll nach unten.
»Möge ihr Licht niemals erlöschen«, hauchte er in einer fremden Sprache, die nur den Ewigen zu eigen war. Das Echo hallte in einem Wispern durch die Halle. Als er seinen Blick hob, glommen nach und nach abertausend schwebende Lichter über ihren Köpfen auf. Sie füllten den Raum bis zur Decke, die ins Unendliche reichte. All die Seelen, die jemals gefangen wurden, flammten auf und tauchten die riesige Halle in ein faszinierendes Licht. Liam erhob sich und schlug das Ende seines Stabes auf den marmornen Boden. Der Knall schallte durch den Raum und mit ihm schlängelten sich die gefangenen Seelen wie graue Nebelschwaden heulend um die Knochenwirbel des Stabes, bis sie sich in dem Rabenschädel gesammelt hatten. Die dunklen Augenhöhlen leuchteten auf. Wie Wassertropfen perlten die Seelen von der Schnabelspitze herab, flossen nach oben und mischten sich unter die anderen Lichter.
Ihr Heulen verstummte. Hier, in diesem Heiligtum, konnten sie nun ihren Frieden finden.
Als Liam aus dem Schleier trat, begegnete ihm ein vertrautes Gesicht. Dimitri, der blonde Totenwächter, saß an der Kirchenmauer und verwöhnte Finn, Maels Wolfshund, mit Streicheleinheiten. Ein breites Grinsen umspielte die jungen Gesichtszüge des Mannes, doch sein Herz trug bereits tiefe Falten.
»Wie geht es dem alten Herrn in seiner Gruft?«, witzelte Dimitri.
»Gut genug, um mich zu tadeln.«
Dimitri lachte. »Jeder hat seine Aufgabe.«
Liam schmunzelte und zuckte mit den Augenbrauen. Während der Wächter die Seelen hütete, bewachte sein Urenkel Dimitri die Verstorbenen auf den Friedhöfen der gesamten Stadt. Es gab nicht viele Totenwächter in diesem Land, somit hatten sich die wenigen in jeder der vier Windrichtungen verteilt. Dimitri übernahm die Großstadt Čzernoc im Norden.
Liam kraulte Finn hinter den Ohren. Seit Maels Tod kümmerte sich Dimitri liebevoll um dessen Schützling. Diese Freundschaft gab beiden so viel, denn sie vertrieb zweifellos die Einsamkeit.
»Ein Raunen geht durch die Gräber«, sagte Dimitri nun etwas ernster. »Selbst Finn kann es spüren.«
»Was bedeutet das?«
Dimitri zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Wiedergänger gab es seit einem Jahrhundert nicht mehr. Auch gibt es niemanden, der sie zu erwecken versuchen könnte. Alle Nekromanten wurden nahezu ausgelöscht.«
Liam fuhr sich nachdenklich durch die kurzen Haare.
»Beobachte es, Dima. Halte mich auf dem Laufenden, wenn es eine Veränderung geben sollte. Ich werde mich derweil umhören.«
Dimitri nickte und Liam verabschiedete sich mit einem Handschlag. Etwas besorgt machte er sich auf den Weg zum Refugium der Jäger und bemerkte mit jedem Schritt, wie müde er mittlerweile war.
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