Kapitel 1
Armut definierte diesen Ort. Dreck, wo man hintrat, Gestank, wohin man bog. Nichts als Aussichtslosigkeit in einer eigenen Welt außerhalb der Stadt, während vor ihren Mauern das Leben florierte.
Dieser Ort hatte keinen Namen. Man bezeichnete ihn einfach als Slums. Und der Name machte ihm alle Ehre. Die, die es besser hatten, lebten vor den Mauern der Ausweglosigkeit in Belanoc. Die Slums waren lediglich der Auffangpfuhl für die, die nicht so viel Glück hatten. Für den Müll, der in Belanoc keinen Platz fand. Hier warf man alles ab, was den schönen Schein einer zivilisierten Gesellschaft gefährden könnte.
Alexis hatte sich an den Schmutz und die Gerüche gewöhnt. Sie wagte es nicht, die Slums als ihr neues Zuhause zu bezeichnen, doch vorübergehend waren sie eine gute Alternative zu Čzernoc, der Stadt der Lügen. Größtenteils begegneten ihr in den Slums freundliche Menschen, die besser wussten, was Herzlichkeit bedeutete, als ihre eigene Familie.
Eine Familie, die sie in gewisser Weise erst vor einigen Monaten bekommen, aber für unbestimmte Zeit verlassen hatte. Sie wollte der Kontrolle und den Halbwahrheiten entfliehen, Abstand gewinnen und versuchen, zu sich selbst zu finden. Der Tapetenwechsel war notwendig, auch wenn er radikal war.
»Lexi, beeil dich, sie sind schon alle auf den Dächern!«
Alexis wandte sich der aufgeregten Mädchenstimme zu. Ama hielt einen Papierdrachen in den Händen und trippelte auf der Stelle.
»Ich komm ja schon!«, rief die Rothaarige lächelnd und rannte mit dem Mädchen durch einige Gassen zu einem sandfarbenen Gebäude, schnurstracks hinein und die bröckeligen Stufen hinauf, die zu einer großen Plattform führten. Mehrere Kinder hatten sich hier versammelt, um ihre Drachen steigen zu lassen.
Heute war es besonders windig. Die Alteingesessenen, die jede Wetterphase in ihren Knochen voraussagen konnten, behielten recht. Der Frühling hatte endlich seine Tore geöffnet. Der Tradition folgend galt der erste richtig windige Tag als Frühlingsanfang und wurde gebührend mit Drachensteigen gefeiert. Etwas Freude im tristen Alltag der Slumbewohner, um für einen Tag ihr Elend zu vergessen, um den Kindern einen der wenigen glücklichen Tage zu gewähren, bevor sie am nächsten Tag erneut die Routine begrüßen mussten.
Alexis konnte diesen Ort jederzeit verlassen. Die Slumbewohner jedoch nicht. Gebrandmarkt für den Rest ihrer Existenz, um ja nicht an einen anderen Ort, in ein besseres Leben flüchten zu können.
Chancengleichheit bedeutete in dieser Welt scheinbar nichts.
Ama warf ihren Drachen, den Alexis ihr für ein paar Kopeken gekauft hatte, in die Luft und sah dem dunkelgrünen Ungetüm aus Papier beim Steigen zu. So dünn und schwach, wie das kleine Mädchen war, hätte der Wind sie beinahe mitgetragen, wenn Alexis sie nicht mit einem Arm festgehalten hätte. Tapfer kämpfte der Drache mit den anderen, um so lange wie möglich in der Luft zu bleiben. Das Kind, das die meisten Drachen zu Fall brachte und sie somit behalten durfte, galt bis zum nächsten Frühlingsanfang als Drachenkönig.
Alexis bemerkte, dass viele der Drachen, die die anderen Mädchen steigen ließen, in grellen Farben erstrahlten.
»Weshalb wolltest du unbedingt den grünen Drachen?«, fragte Alexis Ama.
Die Angesprochene lächelte traurig. »Weil mir das Grün der Wälder und Wiesen fehlt.«
Alexis erwiderte das traurige Lächeln und sah sie für einen Moment einfach nur an. Wie stark musste das Kind sein, jeden Tag aufzustehen und nicht bei all dem Leid, in dem es aufwuchs, zusammenzubrechen? Wie hoffnungsvoll musste es sein, um in einem einfachen Papierdrachen einen Silberstreif am Horizont zu erkennen, umgeben von Verfall und Rauch, die jegliche Hoffnung in einem Nebel erstickten? Alexis wünschte sich, mehr für sie tun zu können. Mehr für alle.
Im Vergleich zu diesem Ort kamen Alexis ihre eigenen Probleme völlig absurd vor.
»Und außerdem«, sprach Ama weiter und hob beide Augenbrauen, »hast du jemals einen echten rosa Drachen gesehen?«
Alexis lachte laut auf. »Nein, noch nie!«
Ein erstickter Schrei lenkte Alexis’ Aufmerksamkeit wieder auf den Drachen. Jemand hatte ihn angegriffen und war dabei, ihn zu Fall zu bringen.
»Lexi, wir verlieren ihn!«
Alexis konzentrierte sich und versuchte mit Müh und Not, ihren grünen Drachen aus den Fängen eines größeren braunen Ungetüms zu befreien. Doch mit einem etwas zu starken Ruck riss die schwache Schnur und Amas Drache flog davon.
»Nein! Lexi!«, rief das kleine Mädchen verzweifelt.
Alexis fasste sich in die Haare und zog eine Grimasse. »Verdammt … es tut mir unendlich leid, Ama.«
Ama seufzte und Alexis fühlte sich furchtbar. Sie sahen beide dem Drachen zu, den der Wind mit sich forttrug. Nach einer Weile lächelte Ama. »Immerhin konnte er nicht zu Fall gebracht werden. Er ist frei, Lexi. Ich denke, das hat auch was Gutes.«
Erstaunt über die Worte lächelte Alexis voller Stolz. Ama war ein besonderes Mädchen.
***
Spät am Abend, während einige in ihren Hütten feierten und Kinder auf den staubigen Straßen umherrannten, saß Alexis auf der großen Plattform des Gebäudes, auf der noch vor wenigen Stunden Drachen in die Luft steigen gelassen worden waren. Es wurde langsam dunkel, Kerzen und Öllampen wurden hier und da angezündet, Gelächter schallte zu ihr hoch. Es war ein wunderbarer Abend. Alexis ließ den Blick über die Slums schweifen.
Einst war dieses Gebiet Teil von Belanoc gewesen. Damals im Mittelalter nutzten die Inquisitoren dieses Stück Land als eine Art Massengrab für Ketzer und Hexen, als Friedhof für Aussätzige. Auch Ewige waren unter den Opfern. Mit den Jahrhunderten und der Neuzeit war Belanoc zu neuem Leben erwacht, jedoch mied man diesen Teil aufgrund seiner Vergangenheit und baute einen Wall drumherum. Die Ewigen hatten einen thum um die Mauern gelegt – einen Schutznebel, der eine Illusion bewirkte –, der die Aufmerksamkeit neugieriger Menschen von diesem Ort ablenkte. So entwickelten sich aus den Ruinen und Trümmern die heutigen Slums, angelegt für die eigenen Aussätzigen unter den Ewigen und gewöhnlichen Menschen: Gefallene und Verlorene, die sich gegen die Regeln der Mächtigen stellten und sich so ins Exil begeben mussten.
Mit den Jahrzehnten war so eine eigene Stadt entstanden, notdürftig errichtet mit dem Wenigen, das ihre Bewohner hatten. Kleine und größere Häuser aus unförmigem Stein, Hütten aus altem Holz, sogar so hohe Bauten wie der, auf dem Alexis die Aussicht genoss. Improvisierte Wäscheleinen aus alten Seilen oder Kabeln zogen sich wie Flechtwerke von Gebäude zu Gebäude. Alles Mögliche, das die Bevölkerung von Belanoc weggeworfen hatte, durften die Slumbewohner nehmen und für sich nutzen.
Es war chaotisch und manchmal zu eng, doch an diesem Ort herrschte Leben, wie arm es auch sein mochte.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du ausgerechnet die Slums der Villa meines Onkels vorziehst.«
Alexis blieb unberührt, als der Dunkelhaarige sich neben sie setzte, und spielte mit dem silbernen Ring an ihrem Finger, den sie vor vielen Jahren nach einer seltsamen Begegnung im Waisenhaus gefunden hatte.
Ryuks Stimme war ihr vertraut, schließlich kam er oft vorbei – um nach dem Rechten zu sehen, wie er immer gern behauptete. Das war der Deal, auf den sie vor Monaten eingegangen war, um für eine Weile untertauchen zu können. Als ihr Leben noch das pure Chaos war und sie ihre Seele an den dunklen Nebel verloren hätte, hätten Alissa, Dimitri und Liam sie nicht gerettet.
Doch daran wollte sie nicht denken. Das war einmal.
»Hier bin ich wie in einer anderen Welt. Ich fühle mich … ruhiger. Ausgeglichener. Es ist schon gefühlt ewig her seit meiner letzten Panikattacke. Hier kann ich durchatmen.«
Ryuk rümpfte demonstrativ die Nase.
»Wenn man von dem Gestank mal absieht«, fügte sie augenrollend hinzu. »Ich fühle mich so wohl wie schon seit Langem nicht mehr.«
»Das ist die Hauptsache«, meinte er lächelnd und ließ seinen Blick umherschweifen. »Die Slums wären nicht gerade meine erste Wahl für ein Exil gewesen, aber ich kann dich in gewisser Weise verstehen. Damals habe ich mich hier oft rumgetrieben. Das ist schon ewig her. Ich hatte schon ganz vergessen, wie anders die Menschen an diesem Ort sind – nicht so aufgeblasen und falsch wie in den Großstädten. Dennoch bist du auch hier nicht vor Gefahr gefeit. Gerade als Frau musst du gut aufpassen, erst recht zu später Stunde. Ich habe schon manch trauriges Schicksal erlebt. Davor würde ich dich gerne bewahren.«
Alexis schmunzelte. Ryuk konnte es einfach nicht lassen, den Aufpasser zu spielen. Dabei konnte sie gut auf sich selbst aufpassen und in der Zeit, in der sie hier war, war nichts Erwähnenswertes passiert. Anfangs war sie zwar aufgefallen wie ein bunter Rabe, doch so langsam hatten sich die Bewohner an sie gewöhnt. Einige in ihrem Viertel jedoch begegneten ihr immer noch etwas argwöhnisch.
»Ich möchte nicht in ständiger Angst leben, Ryuk. Außerdem bin ich in gewisser Weise eine Ewige. Sollte mir jemand gefährlich werden, habe ich die besten Chancen, mich erfolgreich wehren zu können.«
»Ja, von mir aus …«, murmelte Ryuk in einem Ton, als hätte sie ihn zurechtgewiesen.
Eine Weile saßen sie schweigend da und genossen die Ruhe, die langsam in die Straßen einkehrte, und den lauwarmen Abend. In den Slums waren die Sterne am Himmel deutlich zu sehen. Alexis liebte es, die Abende hier oben auf dem Dach zu verbringen. Diese Momente gaben ihr eine unvergleichliche Ruhe, die ihr Geist so dringend benötigte.
»Soll ich dich mit einer Illusion beglücken?«, fragte Ryuk nach einer Weile.
»Nein, heute nicht. Es ist gut so, wie es ist.«
Gelegentlich erschuf Ryuk eine Illusion, wenn sie es brauchte, um sich entspannen zu können. Meditationen wie Alissa sie geleitet hatte führte Alexis zwar nicht durch, doch auf ähnliche Art und Weise halfen Ryuks Trugbilder dabei, ihr Gleichgewicht zu bewahren. Seelenbeschwörung hin oder her, sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, dass der Nebel, der in ihr schlummerte, wieder herausbrach. Die Ereignisse damals in Čzernoc auf dem Friedhof waren immer noch wie ein Albtraum, der an ihr zerrte, der kurze Moment, in dem sie tot gewesen war, eine Schreckenserfahrung sondergleichen. Heute Abend aber fühlte sie sich so befreit und gut, dass ihr eine Illusion unnötig erschien.
Ryuk lächelte. »Nun, ich sehe, es ist alles in Ordnung. Ich lasse dich allein, morgen Nachmittag komme ich wieder vorbei. Zeit für einen kleinen Ausflug.«
»Ausflug?«, fragte sie verdutzt.
»Lass dich überraschen, Lexi.«
Mit diesen Worten verschwand er, ein Luftzug, der ihre Haare umspielte und sich im Dunkel der Nacht verlor.
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