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Leseprobe zu Band 3 Chroniken der Gefallenen - Knochenstaub


Kapitel 2


Pangur beäugte ihn misstrauisch, fauchte ihn diesmal aber nicht an. Ihr musste bewusst geworden sein, dass sie ihn nie verscheuchen könnte. Vielleicht lag es auch daran, dass Ryuk sie nicht wie sonst provozierte. Er stand still vor der morschen Tür und wartete. Beim zweiten Klopfen hörte er Schritte, die sich ihr näherten.

»Tritt ein«, sagte Grigori, nachdem er Ryuk eingehend gemustert hatte.

Der Illusionist trat in die warme Stube ein, die weiße Katze Pangur folgte ihm auf den Fuß. Sie war erstaunlich still heute. Weder erklang ein Murren aus ihrer Kehle oder ein Fauchen, noch erfolgte eine Attacke auf seine Beine. Sie ließ ihn lediglich nicht aus den Augen.

»Kann ich dir etwas anbieten?«, fragte der alte Mann mit den grauen Dreadlocks aus reiner Höflichkeit, wie Ryuk an dessen grimmigen Blick bemerkte. Der Chronist bat ihm sonst nie etwas an, außer die Tür.

Der Illusionist schüttelte den Kopf, wollte keine Umstände bereiten. »Danke.«

Grigori forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen, während er sich selbst auf seinen alten, durchgesessenen Sessel fallen ließ. »Ohne deine Gospozha

Alexis. Ryuk zuckte kurz bei der Erwähnung. Weniger, weil der alte Mann Bescheid wusste, sondern eher, weil seine Gedanken unweigerlich umschalteten und ihn für einen Moment aus der Fassung brachten. Es gab zu viel, um das er sich zu kümmern hatte.

Er blickte zu Pangur, die ihn immer noch aus ihren blau-grünen Augen heraus anstarrte. Dieser wandelnde Flohzirkus wusste natürlich über alles Bescheid und hatte es dem Chronisten längst gepetzt.

»Hausarrest«, antwortete Ryuk, obwohl Grigori sicherlich auch das wusste. »Die Umstände zurzeit sind nicht sehr –«

»Günstig, wohl wahr«, beendete der Ältere dessen Satz und nickte. »Wo du auch hingehst, hinterlässt du nichts als Chaos.«

Ryuk leckte sich über die trockenen Lippen und schluckte schwer. Sein Hals war plötzlich staubtrocken geworden. Die ganze Sache wuchs ihm über den Kopf, alles schien sich mehr und mehr seiner Kontrolle zu entziehen. Sein Körper verlor immer mehr an Kraft. Seine Arroganz hatte Spuren der Verwüstung hinterlassen, und der Gedanke, wie er alles hinter sich aufräumen sollte, bescherte ihm Panik. Er hatte es schon einmal mächtig vergeigt. Der Untergang der Wächterdynastie ging auf seine Kappe. Der Tod des Ersten Ältesten, der Bruch der Lux Aeterna und alles, was danach folgte. Doch das tat ihm bis heute nicht leid. Außer dem, was er damit Alexis angetan hatte.

Doch das, was Ryuk jetzt in Ordnung bringen musste, nahm eine neue Dimension an.

Grigori schien ihn nicht aus den Augen lassen zu wollen. Ryuk war keine Bedrohung, dafür fehlte ihm die Kraft. Und es machte ihn schier wahnsinnig, so angestarrt zu werden. Als würde der alte Mann in ihn hineinblicken, seine Gedanken lesen können.

Der Chronist sah ihn missbilligend an, als hätte er wirklich einen seiner Gedanken aufgefangen. »Ryuk, du weißt, dass dich alle Welt hasst. Für das, was dein Egoismus und deine Arroganz angerichtet haben, gibt es keine Entschuldigung und schon gar keine Wiedergutmachung. Mit dieser Tat kannst du leben, das verrät deine selbstgefällige Visage.« Grigori schnaubte abfällig. Dann machte er eine wegwerfende Bewegung mit seiner faltigen Hand. »Doch wenn mich nicht alles täuscht, wissen nicht einmal eine Handvoll Ewige, was du dafür opfern musstest. Und was dich dazu antrieb.«

Der alte Mann sah ihn lange an. Sein Blick war hart. Er mochte zwar nur ein Geschichtensammler sein, aber auch er war nicht von gestern. Er war der Chronist, und deshalb wusste er sehr genau, was Ryuk damals zu dem Bruch der Wächterdynastie befähigt hatte – denn er war dabei gewesen. Was aber nicht bedeutete, dass jedes noch so kleine, schmutzige Detail auch in den Chroniken verewigt wurde.

Der Illusionist fühlte sich nackt unter dem weisen Blick des Mannes. Das schaffte sonst nur Alexis.

Alexis.

Und da war er wieder. Der Gedanke, der ihn all die Jahrhunderte angetrieben hatte. Der Gedanke, der ihn am Leben hielt. Das er nun langsam zerstörte.

Er konnte den Blick nicht ertragen und wandte sich ab. Sein Kopf schmerzte, als befiele ihn jeden Moment eine Migräne.

»Wie lange kannst du deinen Dämon noch in Schach halten, Junge?«

Der Illusionist blickte auf, die Augen geweitet. Der Kopfschmerz wurde drängender. Die Frage war nicht überraschend, doch traf sie einen wunden Punkt.

Ja, wie lange noch, Ryuk? Wie lange?

»Im Augenblick gibt es weit wichtigere Fragen«, erwiderte er nur.

Nach einer Weile nickte Grigori. »Dein Bruder.«

Ryuk bejahte. »Ich brauche die Chroniken, um seine Seelenstücke zu finden. Ich habe noch keinen Anhaltspunkt, wo die Suche beginnen soll.« Das war zum Teil gelogen. Ryuk wusste, womit es begann, doch wo Konstantin die Stücke seiner verdorbenen Seele versteckt hielt, konnte ihm kein Buch der Welt verraten. Er würde seinen Vater Koschej sicherlich nicht nachahmen. Wonach Ryuk eigentlich suchen wollte, war ein Hinweis darauf, wie ein Seelenfragment ausgelöscht werden konnte, ohne das Objekt zerstören zu müssen, das es einschließt. Und da diese Art von Information nekromantisches Wissen und daher verpönt war, hatte nur der Chronist das Recht, derlei Bücher zu besitzen.

Grigori legte die Stirn in Falten. »Weshalb hast du so lange damit gewartet, die Chroniken aufzusuchen? Sie stehen jedem Ewigen offen, selbst dir. Du hast viel Zeit verloren, Junge.«

Ryuk biss die Zähne aufeinander, bis die Kiefer schmerzten und in seinem Kopf ein Feuerwerk explodierte. Angestrengt atmete er durch die Nase ein und aus, gab jedoch keine Antwort.

Der alte Mann wusste weshalb. Denn Konstantin zu zerstören bedeutete für Ryuk, sich selbst zu zerstören. »Geh«, sagte er nur und nickte zum Bücherregal hinter dem Schreibtisch.

Die Explosionen im Kopf so gut es geht ignorierend, sprach Ryuk etwas in einer fremden Sprache und trat durch den Nebel.

»Wenn du fertig bist«, rief der Chronist ihm hinterher, »nimm dir fünf Minuten Zeit, um Pangur eine Schmuseeinheit zu gönnen. Sie wird's dir danken.«

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